Stellungnahme S3-Leitlinien

Stellungnahme S3-Leitlinien

Einordnung der AWMF-S3 Leitlinien zur Therapie autistischer Störungen aus Sicht der Eingliederungshilfe

1.  Was sind S3-Leitlinien?

Die AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.) existiert seit 1962. Im Jahre 2006 konstituierte sie sich als eingetragener Verein (e.V.) https://www.awmf.org/die-awmf/geschichte-der-awmf.html

Die AMMF gibt Leitlinien für die medizinische Behandlung von Krankheiten aller Art (SGB V) heraus. Das Ziel dieser Empfehlungen ist es, den behandelnden Ärzten Hilfen zur Entscheidungsfindung zu bieten. Die „Leitlinien“ sind rechtlich nicht bindend, da keine Autorisierung durch den Gesetzgeber erfolgt und die AWMF eine private Fachgesellschaft ist. Sie werden in verschiedenen Stufen von S1 bis S3 klassifiziert.

Bei den Leitlinien orientiert man sich an den methodischen Standards, wie sie bei der Überprüfung von Medikamenten entwickelt wurden. Um jegliche subjektiven Einflüsse zu vermeiden, werden dazu nach dem Zufallsprinzip PatientInnen entweder einer Gruppe zugeordnet, die das Medikament oder z.B. den Impfstoff bekommen oder der Gruppe, die ein Placebo erhält. So kann man recht zweifelsfrei feststellen, ob der Wirkstoff wirksam ist.

Was für die Überprüfung von Medikamenten passt, stößt bei komplexeren Fragestellungen wie fast allen psychosozialen Themen schnell an Grenzen. Zum Beispiel kann die Frage, ob Klienten die Fähigkeit um Hilfe zu bitten erlernt haben (ICF d2402), mit dem Methodenarsenal der medizinischen Forschung nicht wirklich beantwortet werden. Zu viele Faktoren müssten kontrolliert werden. Um nur einige zu nennen:

  • Entwicklungsniveau der Klienten
  • Art des Autismus, wo soll die Fähigkeit angewendet und überprüft werden (zu Hause, Schule, Ausbildung etc.)
  • ist das zu messende Verhalten so operationalisiert, dass alle Bezugspersonen das Gleiche meinen, wenn sie das Verhalten beurteilen sollen
  • geben alle beteiligten Bezugspersonen einheitliche Hilfestellungen
  • reagieren alle Bezugspersonen in allen Kontexten im gleichen Zeitraum auf das Verhalten, so dass ein Ursache Wirkungszusammenhang für die Klienten ersichtlich werden kann
  • wie groß oder vertraut ist die jeweilige soziale Gruppe in der das Verhalten angewendet werden soll
  • wie hoch ist die Motivation der Klienten in der jeweiligen Situation,
  • wie ist die gegenseitige Beziehung von Klienten und den jeweiligen beteiligten Bezugspersonen,
  • gibt es kontinuierliche, natürliche Übungsfelder zum Festigen der neuen Verhaltenskompetenz? Dies sind aber typische Fragestellungen im Kontext von Eingliederungsmaßnahmen.

2.  Welche Bedeutung hat die S3-Leitlinie ASS für die Eingliederungshilfe?

Die S3-Leitlinie ASS verfolgt das Ziel, die vielfältigen Forschungsaktivitäten zu Fragen der Diagnostik und Intervention bei ASS systematisch auszuwerten und daraus evidenzbasierte Empfehlungen abzuleiten. Die ausgewerteten Studien beziehen sich aber allesamt nicht auf komplexe Themen im Bereich der Teilhabe.

Stattdessen werden, weil das anders auch nur mit immensem Aufwand zu bewältigen wäre, meist einzelne Symptome oder eng umgrenzte Verhaltensweisen zur Beurteilung der Wirksamkeit einer Intervention herangezogen. Zentrale Aufgabe der Eingliederungshilfe ist jedoch, gerade die Teilhabe behinderter Menschen in unterschiedlichen sozialen Kontexten zu implementieren und sicher zu stellen.

Schon bei etwaigen Effekten von z.B. Gruppentherapien sind die berichteten positiven Ergebnisse durchaus fraglich. Sie dokumentieren lediglich eine Zunahme an Wissen über soziale Kompetenzen bei den Gruppenteilnehmern, machen aber keine Aussage über deren Anwendung im Alltag.

Bei den komplexen Fragenstellungen, wie sie im Alltag der Eingliederungshilfe vorkommen, können medizinische Leitlinien also kaum Entscheidungshilfen geben. Die praktische Relevanz für die Lebenswirklichkeit der betroffenen Menschen mit ASS ist deshalb kaum ersichtlich.

3.  Autismus-Therapie als Leistung der Eingliederungshilfe

Der Begriff „Autismus-Therapie“ beschreibt die – nach den Leitlinien von autismus Deutschland e.V. – in den deutschlandweiten Autismus-Therapie-Zentren (ATZ) durchgeführte ambulante (heil)pädagogisch/psychologisch ausgerichtete therapeutische Förderung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen unter Einbeziehung des jeweiligen Umfelds und ist im SGB VIII und SGB IX verortet.

Autismus-Therapie in den Autismus-Therapie-Zentren in Deutschland ist keine medizinische Therapie im Sinne AWMF S3 Leitlinien zur Therapie autistischer Störungen. Autismus- Therapie als multimodale und multiprofessionelle Leistung ist eine Leistung zur Teilhabe auf der Rechtsgrundlage des SGB IX/SGB VIII (siehe dazu das Positionspapier von autismus Deutschland e.V., Stand 2.1.2020).

Im Recht der Eingliederungshilfe und Neuregelung im Zuge des BTHG liegt bei der Teilhabe der Grundsatz der einzelfallorientierten Leistungserbringung (§ 104 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) zugrunde. Der Leistungsberechtigte selbst, seine Wünsche und seine individuelle Bedarfslage auf Grundlage seiner Biografie, Lebenswelt und Ressourcen sind mit Blick auf die einzelfallorientierte Leistungserbringung in der Eingliederungshilfe im Sinne der ICF Ausgangspunkt jeder Bedarfsfeststellung. Es ist zu gewährleisten, dass Leistungsberechtigte

keine Nachteile hinnehmen müssen und jederzeit bedarfsdeckende Leistungen erhalten. Dies gilt vor allem im Rahmen der Feststellung, Prüfung und Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB VIII bzw. SGB IX. Nach diesen Bestimmungen gilt der

individuelle, personenzentrierte Maßstab, der einer pauschalierenden Betrachtung des Hilfefalls, etwa über Leitlinien u.ä., entgegensteht (BSG, 28.08.2018, B 8 SO 9/17 R; BSG, SozR 4-5910 § 39 Nr. 1 Rn. 25f.; SozR 4-3500 § 54 Nr. 6 Rz. 22).

Insoweit ist gerade der Eingliederungshilfe- oder Jugendhilfeträger verpflichtet, die Eignung im konkreten Einzelfall zu prüfen und den Hilfebedarf nach der ICF und nicht nach von privaten Fachgesellschafen erstellten Leitlinien zu bemessen. Die Rechtsprechung zur Eingliederungshilfe, insbesondere zur Hilfe angemessener Schulbildung, hat betont, dass es anders als im SGB V (Krankenversicherungsrecht) insoweit nicht auf die generelle Eignung nach der zuständigen Fachwissenschaft ankommt, sondern darauf, ob die fragliche Methode im konkreten Einzelfall geeignet und notwendig erscheint, die Folgen einer Behinderung zu beseitigen oder zu mildern (vgl. BVerwG, FEVS 53, S. 503).

Fazit:

Die AWMF-S3-Leitlinie zur Therapie autistischer Störungen ist grundsätzlich nicht geeignet als umfassende Entscheidungshilfe für die individuelle Bedarfsermittlung im Gesamtplanverfahren nach §§ 117 SGB IX für die Teilhabebedarfe von Menschen im Autismus Spektrum. Die Hilfeplanung im Kinder- und Jugendhilferecht für seelisch behinderte Kinder, Jugendliche und junge Volljährige nach §§ 35,41,36 SGB VIII beinhaltet ebenfalls das rechtliche Gebot einer kooperativen und individuellen Hilfeplanung.

Hamburg, 23. März 2021

Die Stellungnahme wurde erarbeitet von den Mitgliedern der Fachgruppe Autismus- Therapie im Bundesverband autismus Deutschland e.V.